Der Laberfürst

In unserer Gegend gibt es die Redewendung »Von nix ne Ahnung, aber immer große Fresse!« Damit beschreibt man Menschen, die mangelnde Ortskenntnis noch lange nicht davon abhält, anderen zu sagen, wo es langgeht. Ein Paradebeispiel für diese Art Mensch war ein Mann, der sich an den Rändern meiner Kindheit herumtrieb, in der Kleingartenanlage, auf diversen Festen der Erwachsenen oder auf dem Fußballplatz.

Für Typen wie ihn war das Wort »vierschrötig« erfunden worden: Kaum eins siebzig groß, aber ungefähr genau so breit, ein perfektes Quadrat als Schädel, mit Handflächen wie Essteller und Fingern wie die Griffe an Sporträdern. Seinen richtigen Namen habe ich vergessen, vielleicht wusste ihn auch niemand, denn alle nannten ihn nur »Laberfürst«. Niemand wusste genau, wo er seinen Namen herhatte, aber mir gefällt die Vorstellung, mein Vater habe ihn erfunden. »Das ist so ein richtiger Laberfürst«, sagte er einmal, als er mit meiner Mutter über ihn sprach. Das Wort gefiel mir und ich bekam es nicht mehr aus dem Kopf.

Der Laberfürst war überall und nirgends, schien nirgendwo zu wohnen und tauchte auf, ohne eingeladen oder angekündigt worden zu sein. Man saß im Schrebergarten und sah zu, wie die Sonne über dem Platz vom SV Germania brannte, da kam er plötzlich um die Ecke, zupfte an seinen Hosenträgern und laberte, als kriegte er Geld dafür. »Kär, watt is datt widda ein Wetter! Da sollze doch am besten zu Hause bleiben. Kühlschranktür auf und davorhocken oder gleich den Kopp in' Eisfach stecken. Nich in Gasherd, hähä! Nee, abba ich hab auch gar kein Gas, weiße. Wie lange geht dat getz mit die Hitze? Zwei Wochen? Abba wenn kalt is, sind auch alle am Meckern. Ich geh ma bei die Germania vorbei, aber die kriegen heute bestimmt widda den Arsch voll. Gegen wen spielen die eigentlich? Is doch egal, die steigen sowieso ab. Kann man ausse Kreisliga eigentlich absteigen? Nee, odda? Na is doch egal. Morgen soll Regen geben, aber getz muss ich los, hab mich widda festgequatscht. Bis die Tage!«

Überflüssig zu erwähnen, dass weder meine Mutter noch mein Vater noch meine Wenigkeit irgendeine Reaktion gezeigt, irgendein ermutigendes Signal gesendet hatte. Der Laberfürst brauchte keine Einladung, labern lief bei ihm automatisch.

Bei irgendeinem Sommerfest, bei dem neben der betonierten Tanzfläche hinterm Vereinslokal der Kleingartenanlage ein Bierwagen und eine Musikanlage aufgebaut worden waren, tauchte er aus der Menge auf, stellte sich zu Spüli, Pommes und mir und fragte, ob wir denn eigentlich wüssten, dass er mal Eintänzer gewesen sei. Wir wussten nicht mal, was das war, ein Eintänzer, aber selbstverständlich kriegten wir gleich einen Crashkurs verpasst. Mit Blick auf das Geschehen auf der Tanzfläche (es lief irgendwas von Freddy Breck oder Karel Gott oder Costa Cordalis oder Bata Ilic oder einem dieser Mutanten) legte er los: »Ich hab mit die Ollen getanzt, die keinen Kerl dabeihatten. Damit die nich so verlassen da rumsaßen, in die Cafés und Tanzschuppen. Und wisst ihr wieso ich da so gut war? Wegen mein' aristrokar... aristorkra... adeligen Auftreten. Datt hatten die gerne die Damen. Immer schick inne Clubjacke oder nem Anzuch! Da blieb datt natürlich nich aus, dass sich die eine oder andere mal in mich verguckt hat. Ganz ehrlich, datt hätte ich auch, wenn ich ne Frau gewesen wäre. So versaut, also optisch getz, wurde ich doch erst später durch die scheiß Maloche. Ich war ma sonn richtich Hübschen, glaubsse gar nich, du! Aber damals wurde ja au noch getanzt] Heute ist doch nur noch Gehüpfe und Gezappel. Ihr jungen Leute packt euch doch noch nich mal mehr an beim Tanzen. Ihr könnt doch gar nich/üh-ren! Ihr stellt euch gegenüber vonander auf, als wenn ihr euch hauen wollt! Datt hat doch mit tanzen nix zu tun! Nä geh mir weg mit den Mist!« Und grußlos verschwand er wieder in der Menge, auf der Suche nach seinem nächsten Opfer.

Manchmal habe ich ihn gar nicht gehört, sondern nur gesehen. Da stand er dann in der Gartenwirtschaft am Tresen und schwadronierte. Dabei federte er gern mal auf den Fußballen, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen und um den Größenunterschied zu seinem Gesprächspartner für Sekundenbruchteile auszugleichen. Oder er zeigte irgendwohin oder stieß den Zeigefinger in Richtung des Angesprochenen, schüttelte den Kopf über etwas, das er selbst nicht glauben konnte, oder schlug sich vor die Stirn, dass es klatschte.

Der Laberfürst war nicht gefährlich, auch wenn er manchmal mit Gewalt drohte. »Kär glaubsse, bei mir hammse letzte Nacht schon widda inne Laube eingebrochen! Datt dritte Ma in diesem Jahr! Die hamm ein Tisch zu Klump gehauen und mir den ganzen Mariacron weggesoffen. Datt geht doch so nicht weiter! Ich leech mich getz da nachts auffen Sofa, bis ich die Sauhunde gepackt krich, und dann zieh ich denen den Aasch auf links, datt kannze mir glauben! Weißt du«, wechselte er ins ruhrgefärbte Hochdeutsch, wie wir es immer dann tun, wenn wir etwas Wichtiges, Offizielles verkünden wollen, »weißt du, dass ich diese Subjekte ohne Weiteres über den Haufen schießen könnte, ohne vom Arm des Gesetzes belangt zu werden? Ich verteidige meinen Grund und Boden, mein Hab und Gut! Das erfüllt von Rechts wegen den Tatbestand der Notwehr. Und von Links wegen auch, datt datt ma klar is!«

Theo, der alte Schrebergartennachbar meiner Eltern und selbst ebenfalls ein begnadeter Rhetor, erzählte mir Jahre später, wie die Geschichte weiterging: »Der Laberfürst hat tatsächlich wochenlang in seiner Laube übernachtet. Konnte der sich ja auch erlauben, als Frührentner. Und als er dann eine Nacht tatsächlich einen Einbrecher auf frische Tat packen konnte ... Odda sagen wir mal einen Suffkopp, den er dafür hielt, da hat er sich erssma mit dem hingesetzt und paar Kurze gekippt. Tja, und dann hat er die arme Sau ins Koma gequasselt. Der is erst drei Wochen später widda wach geworden.«

Anfang der Achtziger verstummte der Laberfürst für immer. Über seine Beerdigung wusste Theo noch zwanzig Jahre später recht lebhaft zu berichten: »Da standen wir um datt Loch rum und der Paster sachte, wir sollten getz alle ma n Moment die Klappe halten. Wir also alle Schweigeminute. Schweigeminute! Für den Laberfürst! Da musse erssma drauf kommen! Datt Einzige, watt wir gehört haben, war die Herner Straße im Hintergrund. Wie sonn Gemurmel hat sich datt angehört. Und als die Minute vorbei war, hat dein Vatta zu mir gesacht: >Hasse gehört? Der labert noch im Sarch!«<

 

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